Gut zwei Stunden Crash-Kurs Weltpolitik im Stadthallen-Foyer. Bei der KUK-Lesung am Montagabend, 13. November, ging es um eine neue Weltordnung. Die alte, die regel- und wertebasierte Ordnung, sei zerfallen, so Münkler. Sein Fixpunkt ist der 15. August 2021 (zufällig sein Geburtstag), der Tag des abrupten Rückzugs der USA und ihrer Alliierten aus Afghanistan. Da, so der Professor für „Politische Theorie und Ideengeschichte“, hat sich am Hindukusch gezeigt, dass die USA und Europa ihre Werte nicht mehr durchsetzen können. Das sei der Tag gewesen, an dem die USA ihre Rolle als Welthüter ad acta gelegt hatten. Das war für ihn der Impuls sein neues Buch „Welt in Aufruhr“ zu schreiben.
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Absetzbewegungen habe es schon vorher gegeben: Obamas Fokus auf den pazifischen Raum, Trumps „America-First-Wahlkampf“. Putins Angriffskrieg in der Ukraine und Chinas möglicher Griff nach Taiwan führte Münkler als Beispiele einer Erosion in der alten Weltordnung an. Die Folge ist gerade sichtbar: „Eine Periode erhöhter Kriegsintensität“. Münkler erwartet, dass es zu weiteren Konflikten kommt. Friedlicher werde es erst wieder, wenn sich eine neue Weltordnung etabliert. Bis dahin versuchten Akteure ihre Position zu verbessern (Russland rund ums Schwarze Meer, die Hamas durch eine Blockade der Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien, evtl. Erdogan mit Blicks aufs alte osmanische Reich).
Neue Ordnung ohne Hüter
Der Politikwissenschaftler erwartet, dass sich fünf Pole herausbilden: USA und Europa (wenn die Europäer ihre Chance nutzen, gemeinsam zu handeln), Russland, China und Indien „als Zünglein an der Waage.“ Fünfer-Konstellationen habe es in der Geschichte schon häufiger gegeben, so Münkler. Sie versprächen Stabilität. Das aber brauche Zeit und entschlossenes Handeln. „Wenn die Russen Erfolg haben in der Ukraine, werden auch andere darüber nachdenken, welche Chancen sie haben, ihre Träume zu erfüllen“, so Münkler. Einflusssphären auszutarieren dauere und koste. Die „Mechanik des Gleichgewichts“ käme dann ohne einen Hüter wie die USA aus. „Wenn sich die fünf einig sind, können sie untereinander Regeln vereinbaren“, hofft Münkler.
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Ingar Solty, Referent am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, stellte die Frage, ob die USA nicht selbst zur Erosion der Weltordnung beigetragen haben, die sie zu verteidigen immer vorgegeben haben. Die US-Strategie, sich von China abzukoppeln könne sich Europa nicht leisten und die chinesische Vormachtstellung in einigen Bereichen könnten auch die USA nicht wieder einfangen.
Während Münkler weitere Auseinandersetzungen als unausweichlich ansieht, weil Autokraten damit ihren „Phantomschmerz“ des Verlustes ehemaliger Einflussgebiete kompensierten, sieht Solty neue Abhängigkeiten durch die teure Aufrüstung. Auch von der würden die USA in erster Linie profitieren. Denn: ein Großteil der Rüstungskäufe erfolge in den USA. Sie sei dabei dort aber auch ein Treiber „mit Folgen für den technologischen Fortschritt“.
Europa braucht Einigkeit und Abschreckungspotenzial
Münkler erwartet, dass Europa sehr viel mehr in Rüstung investieren und zudem versuchen wird, dabei unabhängiger zu werden. Und: „Europa braucht ein eigenes nukleares Abschreckungspotenzial.“ Zudem müsste die Handlungsfähigkeit verbessert werden, das Einstimmigkeitsprinzip abgeschafft werden. Wenn das in der EU nicht möglich sei, müsste ein Zirkel mit Deutschland Polen, Frankreich, Spanien, Italien und möglichst auch Großbritannien zu gemeinsamer Verteidigung und Abschreckung zusammenfinden und so eine Keimzelle für weitere Mitglieder bilden. Nur so könne Europa mehr Macht entfallen und eine Rolle auf der neuen Weltbühne mit fünf Polen spielen. Die Chancen bewertet Münkler mit „50 zu 50“. Allein das sein „ein hinreichender Grund, Politik in diese Richtung zu machen.“
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Mit der Lesung haben KUK und Wolfgang Schmitz ein topaktuelles Thema nach Meinerzhagen geholt. Schwere Kost, nicht nur, weil Münkler teils in professoraler Attitüde wie in einem Oberseminar agierte, kenntnisreich, aber auch mit Details kokettierend. Er zeichnete ein Weltbild, das durchaus schlüssig wirkte, aber wenig Hoffnung machte. Vor allem weil ein Konflikt nahezu unerwähnt blieb, der alle betrifft: der Klimawandel.
KUK-Vorsitzender Rolf Muck immerhin erinnerte daran, was hier an Kosten und Folgen zu erwarten ist und was eigentlich alle zum Handeln zwingt. Eine Lösung dafür hatten auch Münkler und Solty nicht außer der Hoffnung, dass die neuen Fünf sich vielleicht auf Regeln einigen. – Wenn es dann nicht zu spät ist. Für die etwa 150 Besucher im voll besetzten Foyer war es ein facettenreicher und interessanter Abend, leider auch einer, der nicht gerade zuversichtlich stimmte. Aber das ist der „Welt in Aufruhr“ geschuldet und nicht den Referenten anzulasten.
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