Kalter Krieg auf dem Abstellgleis: Berliner reflektiert in Oberbrügger Army-Waggon eigene Geschichte

Das Hoheitszeichen mit Stars and Stripes, Symbol der US-Flagge, hat Wolfgang Kiekheben (84) mitgebracht. Die Tafel mit Magneten pappt er gleich zu Beginn seiner „Inspektion“ an den Schlafwagen auf dem Abstellgleis der Schleifkottenbahn. „So sah das aus, wenn wir auf der Transitstrecke unterwegs waren“, sagt der Berliner. Er war Teamleiter in den Transitzügen, die die US Army zum Personaltransport zwischen Frankfurt am Main und Berlin-Lichterfelde einsetzte. Für einen der Original-Waggons war Endstation in Oberbrügge.

Ab Dezember 1945 rollten die Züge.. So wollten die Alliierten Präsenz zeigen, ihre  Rechte geltend machen. Die Züge des „United States Army Transportation Corps“ sicherten den freien Zugang nach Berlin. Sie waren US-Hoheitsgebiet. DDR-Grenzer blieben außen vor, hatten kein Zutrittsrecht zum Zug. Für die Betreuung der Amerikaner und das Catering in den Abteilen war die Deutsche Schlaf- und Speisewagen-Gesellschaft (DSG) verantwortlich. 25 Jahre, von 1965 bis 1990, fuhr Wolfgang Kickleben mit. „Durch die DDR zu fahren war immer ein Abenteuer“, sagt er. Er kam mit dem letzten Zug in Berlin an – am 8. Dezember 1990, gut ein Jahr nach dem Mauerfall. Beim Gang durch den Zug werden für ihn Erinnerungen lebendig. Der Waggon in Oberbrügge – ein Stück Geschichte: Kalter Krieg auf dem Abstellgleis.

[[ad-placeholder]]

Transit-Züge weitgehend autark

„Hier ist der Diesel“, sieht Wolfgang Kiekheben gleich am Einstieg. Das Aggregat, ein Mercedes-Motor, diente der Notstromversorgung. Die Waggons für die US-Army waren weitgehend autark, was Energie- und Wasserversorgung anging. „Man hatte Sorge, dass die DDR einen Zug aufhalten könnte“, weiß Stefan Heinrich, Geschäftsführer der Schleifkottenbahn.

Gleich daneben das „Mädelszimmer“. Das einzige Abteil im Zug mit eigenen Sanitäranlagen – für die Damen. „Mensch, dass ich das noch sehen darf“, staunt der Gast aus Berlin immer wieder. Auch die kleine Küche mit den Regalen kennt er aus dem Effeff, deutet auf die Stelle, wo die Trinktüten lagerten. Nächste Tür: das Salonabteil. Wolfgang Kiekheben hat noch Schwarz-weiß-Foto aus seiner Zeit auf dem Zug dabei. Die Abteile gleichen sich. Hier feierten die Offiziere, nahmen einen Drink, um sich die elf Stunden oder mehr auf der Transitstrecke angenehm zu gestalten. Eigentlich gehörten die Waggons zu Hospitalzügen. Für den Army-Transit waren sie umgebaut worden. „Alles 60 Jahre her“, bilanziert der ehemalige Teamleiter.

[[ad-placeholder]]

In den Schlafabteilen drei Pritschen übereinander, hinter einer Klappe und schmalen Spinden auf der anderen Seite ein kleines Waschbecken. Kiekhagen macht eine Klappe auf: „Das sind ja noch die original Urinflaschen drin“, stellt er fest. Am Ende des Wagens fehlt die Deckenverkleidung. Hier oben sind die Wassertanks. Vor jeder Fahrt mussten Kiekhagen und seine Kollegen testen, ob das Wasser gechlort war – zum Schutz des US-Offiziere vor Keimen. Der Train-Officer prüfte das selbst nochmal nach, erzählt der Besucher aus Berlin.

Fotogalerie:

Lederschlaufe als Fluchthindernis

An den Griffen der Waggontür sticht ihm gleich eine Lederschlaufe ins Auge, die einer verdrehte Acht gleicht. Auch original, das Leder abgeschabt, schon etwas brüchig, stellt Kiekhagen fest, als er dranfasst. Damit wurden die Türgriffe gesichert, damit bei der Fahrt durch die DDR niemand die Tür einfach von außen öffnen konnte. – Flüchtlinge etwa. Die im Zug – undenkbar. Diplomatische Verwicklungen sicher. Riskant für die Passagiere außerdem. Die DDR-Grenzer hätten den Zug stoppen, ihn bei einer Weiche ins Leere laufen lassen können.

[[ad-placeholder]]

Trotzdem hat es einer geschafft – auf einer Langsamfahrstrecke sprang er in Fensterhöhe von einer Brücke in den Zug, erinnert sich Kiekhagen. Da der Zugführer der Reichsbahn, der im Kommandowagen saß, davon nichts mitbekommen hatte, wurde der Flüchtling mit den Westen geschleust. Im Film „Flucht aus Gerwisch“, wird ein ähnlicher Fluchtversuch dokumentiert.

Bahn: nicht pünktlicher, aber diverser

Auf den Waggon in Oberbrügge, „eine Rarität“, wie  Wolfgang Kiekhagen betont, ist er zufällig aufmerksam geworden. Ein Forscher des Alliierten Museums in Berlin suchte für seine Arbeit zu den Transit-Zügen einen Zeitzeugen, der seine Quellenangaben stützen konnte. Kiekhagen hatte dem Museum Exponate aus seiner Zeit überlassen. So kam der Kontakt zustande. Einen Besuch bei Verwandten in Herford auf dem Weg in den Urlaub in Bayern war für den Berliner jetzt eine willkommene Gelegenheit, noch einmal „seinen“ Waggon zu inspizieren, Erinnerungen aufzufrischen, einzutauchen in eine Welt, in der sich Systemgegner täglich Auge in Auge gegenüber standen.

Der Rundgang ist beendet. „Da müssen noch Steckdosen an der Wand sein“, sagt Kiekhagen auf dem Weg vorbei an den Abteilen zum Ausgang. Michael Arnold, Betriebsleiter der Schleifkottenbahn, kann ihn beruhigen: die alten Steckdosen für die Putzfrauen sind auch noch da. Pünktlicher ist die Bahn seither nicht geworden, aber diverser. Inzwischen putzen auch Männer in den Zügen. Wir steigen aus. Wolfgang Kiekhagen bleibt noch einen Moment allein im Waggon, schießt ein paar Fotos – ein Stopp in der Geschichte der Welt und der eigenen, stilles Glück.

[[ad-placeholder]]