Die Lebens- und Leidensgeschichte der Familie Laubinger

Fremde im eigenen Land sein: Für Sinti in Deutschland die blanke Realität. Ein Empfinden, das in der Familiengeschichte von Ricardo Laubinger, Vorsitzender der Sinti-Union Hessen, anlässlich des Holocaust-Gedenktags am Freitag, 27. Januar, in der Aula der Humboldtschule vor rund dreihundert Schülern eine Stimme fand.

„Heutzutage wissen die jungen Menschen gar nicht über die Sinti-Verfolgung Bescheid. Dabei sind die unsere Zukunft. Dass muss sich ändern.“ Auch wenn die Gräueltaten des Nazi-Regimes etwa 80 Jahre zurück liegen, kommt Ricardo Laubinger von der Sinti-Union Hessen nicht zu Ruhe. Zu oft werden die Geschichten und Erzählungen der Sinti-Minderheit an historischen Gedenktagen, in Parteiprogrammen und in der Öffentlichkeit nicht erhört. Es ist ihm ein Herzensangelegenheit, die Erinnerungen präsent zu halten, „damit sich die Tragödie nicht wiederholen kann“, so der Schulleiter der Humboldtschule Reiner Klausing zu Beginn der Veranstaltung.

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Vor dem Publikum, bestehend aus Bürgermeister Michael Brosch und Schülern der Humboldtschule, des Anne-Frank-Gymnasiums und einer kleinen Delegation der Sekundarschule Radevormwald – bestehend aus dem Anti-Rassismusbeauftragten Marcel Klausing und zwei Schülern -, erzählte Laubinger vom Schicksal seiner Familie und seinen persönlichen Erfahrungen mit Schikanen, Gewalt und Rassismus. Erfahrungen, die auch in Halver wurzelten.

Die Lebens- und Leidensgeschichte der Familie Laubinger/Weiss

Sie wurden gedemütigt, vergast und ermordet. So auch die Familie von Bertha „Sichla“ Weiss, die Mutter von Ricardo Laubinger, die als einziges Familienmitglied die Schreckenszeit der Nationalsozialisten überlebte. Im Alter von 14 Jahren wurde sie von den Nazis in verschiedene Konzentrationslager in Polen verschleppt. Nach insgesamt 59 Monaten Haft befreiten die Alliierten die 20-jährige Weiss – allein und ohne jegliche Verwandtschaft. „Sie wurden alle brutal ermordet. Ohne Rücksicht auf Kinder oder irgendwen anders. Sie haben es fast geschafft, uns auszurotten“, betonte Laubinger.

Für den Vorsitzenden sei es wichtig, mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen. Er will nicht nur berichten, sondern seinen Erzählungen Gesichter geben. Deshalb ist seine Präsentation mit Fotos der Opfer des NS-Regimes durchsetzt. Es sei ein wichtiges Symbol der Erinnerungskultur. So widmete sich Laubinger nicht nur seiner Mutter, sondern auch seinen ermordeten Cousinen, Onkels, Tanten und seinem Großvater.

Diskriminierung und Rassismus auch in der Nachkriegszeit

Mit Kriegsende war der Leidensweg der Familie aber noch lange nicht vorbei. Die Angst, „geschnappt und eingesperrt“ zu werden, verfolgte die Familie bis in die Gegenwart. „Wie Kriminelle mussten wir regelmäßig zur Polizeiwache erscheinen und zum Beispiel unsere Fingerabdrücke abgeben“, so Laubinger. Weiter führte er aus: „Sie haben uns jedes mal bedroht, sobald wir einen Wiedergutmachungsantrag stellen wollten. Dieser wurde jedoch immer abgelehnt – mit der Begründung, dass die Sinti-Verfolgung wohl nicht aus rassistischen Motiven geschah.“ Die Familie fühlte sich von den Behörden alleine gelassen.

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Das Sprechen der eigenen Sprache geschah im Geheimen, die Identität wurde verschleiert: „Am Tag meiner Einschulung verboten mir meine Eltern zu erzählen, dass ich ein Zigeuner bin.“ Als ein rassistischer Klassenlehrer dann doch auf ihn aufmerksam wurde, konnten Schikane und Prügeleien nicht mehr verhindert werden.

Alltagsrassismus und die Gründung der Sinti-Union Hessen

Auch im Jahr 2023 werden Sinti in Deutschland mit Alltagsrassismus konfrontiert – sei es bei der Wohnungssuche, seitens der Polizei oder im Urlaub. Dass viele dieser Fälle unter den Teppich gekehrt werden, läge laut Laubinger daran, dass für die Sinti nie eine vertretbare Lobby existierte. Aus der Motivation heraus, eine Anlaufstelle für alle von Diskriminierung betroffene Sinti zu errichten, entstand die Sinti-Union Hessen. „Wir werden als gemeinnützig anerkannt, bekommen aber keinerlei Unterstützung und Fördermittel vom Staat, Land oder Bund“, ärgerte sich Laubinger.

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Ein besonderer Moment ereignete sich am 10. Januar 2023 beim Neujahrsempfang im Schloss Bellevue, wo Laubinger von Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier persönlich für sein Engagement und sein Buch „Und eisig weht der kalte Wind“, worin er die Geschichte seiner Mutter nacherzählt, gelobt wurde.

„Halver ist ein großer Teil meiner Familiengeschichte“

Zurück zu den Wurzeln: Karl Laubinger, Vater von Ricardo Laubinger, arbeitete sowie musizierte im Familienbetrieb Turck in Halver und wurde von einem Polizisten denunziert. Michael Brosch bewertete den Vortrag von Laubinger als sehr positiv: „Es ist bedrückend und beschämend, was mit Ihnen in der Vergangenheit passiert ist. Ich bin froh, Sie und Ihre Frau kennengelernt zu haben“, betonte er zum Ende der Veranstaltung. Zudem hoffe er, in der Zukunft ein würdiges Mahnmal der Sinti in Halver errichten zu können. Zum Schluss überreichten die Schülersprecher der Humboldtschule feierlich eine Spende in Höhe von 100 Euro für die Sinti-Union Hessen.

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