„Ich halte es nicht mehr aus, was in Schulen abläuft“, kritisiert Claus Peter Wirth nach zwanzig Jahren im Schuldienst. „Immer mehr Ich-Bezogenheit, Schüler, die in Watte gepackt werden“ – begünstigt von Politik und Gesellschaft. Ein Trend, den der 61-jährige Halveraner zunehmend beobachtet. Der Katalysator des ehemaligen Leiters der Realschule Radevormwald: Sein Debüt-Roman „Reproduktionsfehler. Ansichten über das Kindergroßziehen“, erschien im epubli-Verlag Ende September als E-Book und in Buchformat im Oktober.
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Wir begleiten als Leser Jennifer Hassel-Meyer mit ihrem Mann, dem Rechtsanwalt Carl-Michael und ihren drei Kindern ein Jahr in ihrem Alltag in der fiktiven Stadt Wermelsburg. Es geht los mit dem Geburtstag ihres jüngsten Sohnes Curd-Jürgen. Was macht diese Familie aus und was erwartet uns?
Claus Peter Wirth: Unsere Familie trägt die Nase nach oben. Meine Figuren sind überzeichnet. Einige meiner Figuren enthalten Wesensmerkmale von Menschen, die mir über den Weg gelaufen sind. Die realen Vorbilder haben mich auch zu den Doppelnamen inspiriert, aber ich bilde keine lebende Person vollständig als Persönlichkeit ab. Vielmehr möchte ich auf Missstände hinweisen, die hier und heute in unserer Gesellschaft, in Familien und Schulen passieren.
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Unsere Familie hat es nicht leicht und bekommt alle Schwierigkeiten des Schulsystems ab: Der Jüngste geht noch in die Kita, das mittlere Kind wechselt auf die weiterführende Schule und der Älteste besucht das Gymnasium.
Warum formulieren Sie den gesamten Roman im Präsens?
Es ist eine Aneinanderreihung von Ereignissen, die ich exemplarisch beschreibe und die so oder so ähnlich heute überall passieren. Meine Thematik, dass Schüler zunehmend eine Ich-Bezogenheit an den Tag legen und meinen, die anderen seien allein für ihr Wohl verantwortlich, ist leider gegenwärtig. Hier möchte ich den Finger in die Wunde legen. Wir alle können noch Einfluss darauf nehmen.
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Inwiefern sind Schule, Eltern und die Gesellschaft für diese zunehmende Ich-Bezogenheit der jungen Generation, wie Sie sie beobachten, verantwortlich?
Ein Beispiel sind die Kernlernpläne, die es seit Anfang der 2000er Jahre gibt. Darin steht sinngemäß: Der Lehrer ist für das verantwortlich, was der Schüler lernt – und nur der Lehrer! Das sind Tendenzen, bei denen ich denke: Wo bleibt die Eigenverantwortung der Schüler? Leider musste ich feststellen, dass Schüler im Alter von zehn bis 16 Jahren immer weniger ein Verantwortungsgefühl für sich selbst und die Gesellschaft, in der sie leben, entwickeln.
Es ist aber auch kein Wunder: Jedes gesellschaftliche Problem wird auf die Schulen abgewälzt, ob es nun die Integration oder die Berufswahl ist. Als Schulleiter ist mir zunehmend der Aktionismus der Politik aufgestoßen. Aber uns als Gesellschaft und die Medien möchte ich auch nicht aus der Verantwortung nehmen.
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Wie bauen Sie all diese Akteure in Ihren Roman ein?
Der Vorteil des Romans ist es, dass ich die verschiedenen Akteure und ihre Sicht auf die Erziehung durch Figuren abbilden kann. Die verschiedenen Sichtweisen werden kontrovers verhandelt – das spürt Jennifer Hassel-Meyer am eigenen Leib. Wir treffen auf Eltern, Lehrer, Schulleiter, Schüler und auch Autoren mit unterschiedlichen Meinungen. Ich möchte durch meine Darstellung zum Nachdenken und zum Austausch anregen.
Gleichzeit erschließe ich mir durch das Figurenrepertoire eine große Zielgruppe an Lesern für meinen Roman, die sich angesprochen fühlen sollen. Ein Sachbuch hätte sicher einen kleineren Leserkreis interessiert. Unterhalten und zum Schmunzeln anregen soll der Roman natürlich auch. Es ist ein Zwitter aus Sachbuch und Roman.
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Wie kommen Sie selbst im Roman vor?
Ich nehme eine Mehrfach-Rolle in diesem Buch ein: Als ehemaliger Lehrer und Quereinsteiger, Schulleiter, Vater und nun auch Autor habe ich natürlich eine Idee davon, wie Schule und Erziehung besser laufen könnten. Sowohl mein Kollegium als auch die Mitglieder im Arbeitskreis Schule des Düsseldorfer Landtages konnten mir ziemlich uneingeschränkt zustimmen. Zum Teil läuft die Gestaltung von Schule aus meiner Sicht in die falsche Richtung, daher der Roman. Es wurde immer schlimmer …
Was genau?
Am Ende meiner Zeit als Schulleiter habe ich mich gefragt: „Was mache ich hier eigentlich? Vertue ich meine Zeit. Ich komme keinen Schritt weiter in meinem Bestreben, Menschen dabei zu unterstützen, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden.“ Im Jahr 2021 habe ich meine Lehrer- und Schulleitungsstelle beim Land gekündigt.
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Wie bewerten Sie Bewegungen wie „Fridays For Future“, die konträr zu dem laufen, was Sie beschreiben?
Es gibt auch viele gute Tendenzen in der jungen Generation. Die hat es immer gegeben, und ich denke manchmal, dass mein Blick auf die heranwachsende Generation zunehmend negativ geworden ist, hat auch mit meinem Alter zu tun. Schon Sokrates hat vor über zweitausend Jahren die folgenden Generationen kritisiert. Gleichzeitig finden sich immer wieder auch positive Eigenschaften und Entwicklungen.
Schule, Familie, Politik – gängige Begriffe unseres Alltags. Warum benutzen Sie den sperrigen Begriff „Reproduktionsfehler“ als Romantitel. Ist Ihr Buch auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung?
Reproduktion bedeutet im soziologischen Sinne die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Das ist meines Erachtens gefährdet. Daher frage ich: Was passiert hier? Und fordere auf: Guckt euch das an. Es wird Zeit! Bereits in den achtziger Jahren hat ein Psychiater den wachsenden Narzissmus der jungen Generation beschrieben.
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Ihr Roman erfordert somit eine Anschlussdiskussion: Welchen Effekt erhoffen Sie sich und wie können Leser mit Ihnen in den Austausch treten?
Auf meiner Webseite gibt es die Möglichkeit, Kontakt zu mir aufzunehmen und ich hoffe, dass meine Leser diese Chance nutzen. Vor allem erhoffe ich mir ein Nachdenken über das, was in Erziehung, was im Elternhaus, was in Schulen passiert.
Bezeichnen Sie den Roman als Ihr „Herzensprojekt“?
„Herzensprojekt“ ist vielleicht ein bisschen hoch gegriffen, aber wenn ich eine Bucket-Liste hätte, dann hätte ein Buchprojekt darauf gestanden. Ich habe schon vor Jahren gesagt: „Ich möchte gerne mal ein Buch schreiben“, ohne inhaltlich genau zu wissen, worum es gehen sollte. Einfach die Erfahrung zu machen: Schaffst du das? Heute merke ich: Ein Buchprojekt braucht Zeit. Gerade im Selbstverlag, wie ich es jetzt gemacht habe. Ich bin für alles außer den Druck und die Distribution verantwortlich. Aktuell nehme ich Kontakt zu Buchhandlungen und Medien auf.
Viel Glück dabei und vielen Dank für das Gespräch.
Gerne. Ich danke Ihnen.
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